es war einmal ein Wintermärchen

 

 

Mein erster Weihnachtsbaum

 

 

 

Wir schrieben das Jahr 1946. Ich war gerade zwei Jahre alt. Meine Mutter und ich lebten etwas außerhalb eines Weilers, im sogenannten „Armenhaus“. 

 

Meine Mutter war eine ausgezeichnete Näherin. Ihre Fähigkeiten mussten aber unbestritten als brotlose Kunst bezeichnet werden, weil zwar Bedarf bestand, aber keine Stoffe vorhanden waren. Anfangs konnte sie aus Restbeständen der ehemaligen Wehrmacht recht ansehnliche Zivilbekleidung fertigen, ich selbst bin dafür ein Prachtbeispiel, aber die waren jetzt restlos alle. 

 

Das Ändern von Kleidungsstücken war nur sporadisch gefragt und brachte deshalb wenig ein. Im Sommer konnte sie noch als Tagelöhnerin den einen oder anderen Groschen hinzuverdienen. Im Winter war bei uns Schmalhans Küchenmeister. So konnte es nicht weitergehen. 

 

Der Sommer 1947 war sehr heiß. Die alte Marika, sie war jahrzehntelang Magd in einem etwas größeren Bauernhof, erlebte das Ende des Sommers nicht mehr. Nach der Beerdigung räumte die Bäuerin die Kammer von Marika aus. Sie fand in den wenigen Habseligkeiten ein Holzkästchen. Darin waren Utensilien für Stickerei- und Klöppelarbeiten. Mit diesen wusste sie nichts anzufangen und schenkte sie deshalb meiner Mutter. 

 

Es dauerte aber doch noch den ganzen Winter bis Mutter auch das Sticken und Klöppeln beherrschte. In dem Kästchen waren ausreichend Stoffe und Garn, um einen kleinen Bestand an Tischläufern und Set´s zu fertigen. 

 

Im Frühjahr 1948 machten wir uns auf den Weg, um im nächsten Ort die Ware zu verkaufen. Sieben Kilometer mussten wir zu Fuß gehen. Obwohl die Siedlung –für mich- groß war, fanden wir keinen Käufer. Enttäuscht wollten wir zurückkehren. Ein Fuhrmann bot  uns an kostenlos in die Kreisstadt mitzufahren.   Dort glaubte er würden wir ganz sicher einen Interessenten finden. 

 

Auf dem Pritschenwagen war für uns zwei gerade noch Platz. Ich war müde. Meinen Kopf legte ich in Mutter´s Schoß und schlief selig ein, trotz allem Geholper und Gepolter. 

 

In der Kreisstadt wurden Mutter ihre Erzeugnisse auch nicht gerade aus der Hand gerissen. Nach ellenlangem Suchen fanden wir einen Schneidermeister, der Gefallen an Mutter´s Produkten hatte. Aber mehr als einen Tausch Stoffe und Garn gegen die Stickereien war nicht drin. Großzügigerweise erhielten wir noch ein Abendbrot und ein Nachtlager. Wir teilten das Abendbrot in zwei Rationen, damit wir auch am nächsten Tag noch etwas zu Essen hatten. 

 

Mit einem kleinen Hoffnungsschimmer machten wir uns auf  den Nachhauseweg. Wir hatten es verpasst mit dem Fuhrmann über eine evtl. gemeinsame Heimfahrt zu sprechen und mussten deshalb die gesamte Strecke zu Fuß gehen. Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Als wir wieder zu Hause waren sanken wir todmüde in unsere Betten. 

 

Wieder hatten wir kein Geld und so musste sich Mutter weiterhin als Tagelöhnerin verdingen und hatte wenig Zeit  fürs Sticken und Klöppeln. Meine kleinen Handreichungen wurden in der Regel mit einem zusätzlichen Stück Brot abgegolten. 

 

Erst als die Erntezeit vorbei war und der Herbst schon dicke da war hatte Mutter wieder mehr Zeit für ihre Heimarbeit. Sie hatte sich aber wohl bei der Erntearbeit übernommen und musste beim Sticken und Klöppeln hin und wieder größere Pausen einlegen.  

 

Das war dann für mich die Zeit Fragen über Fragen zu stellen. Die brennenste war natürlich nach meinem Vater und warum wir  nicht in der Stadt wohnten. Die Fragen über meinen Vater konnte sie nur vage beantworten. Die einzigen und letzten Informationen waren, dass er kurz vor Kriegsende in der Nähe von Berlin in russische Gefangenschaft kam und wahrscheinlich in ein Bergwerk in Sibirien verbracht worden war. Da unser derzeitiger Aufenthaltsort die letzte meinem Vater bekannte Adresse war, wollte Mutter hier ausharren, bis er käme. 

 

Die Arbeiten gingen ihr immer noch nicht so flott von der Hand wie früher. Es dauerte bis Februar 1949 bis sie alle Stoffe und Garne verarbeitet hatte. Eine Reise im Winter in die Kreisstadt war bei ihrem angeschlagenen Zustand nicht angeraten. 

 

Im April war meine Mutter jedoch nicht mehr zu halten. Sie wollte mir zu meinem 5. Geburtstag endlich etwas „Größeres“ schenken. Bisher gab es immer nur ein Taschentuch mit den Initialen und einer schön verzierten Zahl, die das Alter widerspiegelte. 

 

Wir machten uns also mit dem vorgefertigten Sortiment zu Fuß auf den Weg. Zuerst nach dem nächsten Ort. Von da aus wieder zur Kreisstadt. Unterwegs erzählte mir Mutter, dass es am 20. Juni vergangenen Jahres eine Währungsreform gegeben hat. Meinem verständnislosen Blick konnte sie entnehmen, dass ich nicht wusste um was es dabei gegangen war. Sie ersparte sich weitere Erklärungen und sagte nur, dass in den Geschäften wieder –fast alles- wie vor dem Kriege zu kaufen sei. Sie hatte deshalb auch die Hoffnung einen weit besseren Geschäftsabschluss zu tätigen als beim ersten Mal. 

 

Je länger wir gingen, um so deutlicher wurde mir bewusst, dass ich mit meinen kurzen Beinen schneller war als Mutter. Diesmal war auch weit und breit kein Fahrzeug zu sehen, das uns hätte mitnehmen können. Ich lief langsamer und beobachtete Mutter von der Seite. 

 

Auf einmal kam starker Wind auf. Wir schauten uns nach einem sicheren Unterschlupf um. Jäh brachen Wassermassen über uns herein und erschwerten zusätzlich unser Vorwärtskommen und die Suche nach einem schützenden Unterstand. Wir kamen nur noch sehr langsam voran, strauchelten und fielen auch oftmals hin.

 

Mutter wurde immer schwächer. Sie konnte ihre kostbare Ware nicht mehr festhalten und verlor Stück um Stück. Anfangs versuchte ich hinterher zu rennen und die Stücke wieder einzusammeln. Das Unterfangen war jedoch zwecklos. Außerdem brauchte mich Mutter. 

 

Wir waren schon ganz verzweifelt, als wir eine halbfertige Bunkeranlage entdeckten. Dort suchten wir Schutz vor Regen und Wind. Obwohl wir nun einigermaßen geschützt waren, drang die Kälte durch unsere nassen Kleider. Bei mir war es noch erträglicher, weil meine Jacke und die Hose aus Filz gefertigt waren. Mutter hingegen litt sehr. Wir hatten keine Möglichkeit ein Feuer anzuzünden und die Kleider zu trocknen und uns zu wärmen. Unser Proviantsäckchen war mit den Stickereien verloren gegangen. 

 

Der Sturm ließ nicht nach. Es tobte, heulte und pfiff um uns herum. Mutter zitterte am ganzen Körper. Ihre Stirn war glühend heiß. Um etwas Abkühlung zu schaffen nahm ich mein Taschentuch Nummer  vier lugte ganz vorsichtig um die Ecke des Bunkers und tränkte es in einer Pfütze. Nur ganz kurzfristig verschaffte ihr die feuchte Kühle auf der Stirne Linderung. 

 

Mutter ging es immer schlechter. Sie phantasierte und erzählte unverständliches Zeug. Hilfe konnte ich keine holen. Versuchte ich den schützenden Bunker zu verlassen, ergriff mich der Sturm und warf mich zu Boden.

  

Ich war ganz verzweifelt, rüttelte, so heftig ich konnte, an den Schultern meiner Mutter, rief sie beim Vornamen, küsste ihre Augen, die Wangen und die Stirne. Es half alles nichts. Selbst die, wahrscheinlich durch Fieber verursachten Zuckungen blieben aus. Ganz hemmungslos kullerten die Tränen über meine Wangen. Unsägliche Angst packte mich und ließ mich erschauern. 

 

Zwei Tage hielt ich einigermaßen durch, dann fiel ich in ein sehr tiefes dunkles Loch. Trotzdem ich Vater noch nie gesehen hatte, hielt ich die wie durch einen dicken Nebel wahrnehmbare Gestalt für meinen Vater. Erst allmählich begriff ich, das Gesicht war nicht Vater, sondern der Fuhrmann.  

 

Als der Sturm endlich vorbei war machte er sich von der Kreisstadt auf den Heimweg. Im Straßengraben fand er einen Teil von Mutters Stickarbeiten. Es war ihm sofort klar, dass hier etwas Unheilvolles passiert sein musste, nur wo? Er hielt Augen und Ohren offen, konnte uns aber nicht finden.  

 

Im Heimatort angekommen alarmierte er seine Nachbarn. Eine große Suchaktion mit seinem Hofhund führte endlich zum Erfolg. Wir wurden gerade noch rechtzeitig gefunden. 

 

Der Fuhrmann nahm uns mit nach hause. Seine Frau kümmerte sich rührend um uns. Eine schwere Lungenentzündung streckte Mutter wochenlang nieder. 

 

Im August war es, als man im Ort erzählte viele deutsche Zwangsarbeiter würden aus russischer Gefangenschaft entlassen und in den nächsten Monaten heimkehren. 

 

Immer, wenn ich am Krankenlager saß erzählte ich Mutter die Geschichte. Eines Tages wahrte ich einen kaum spürbaren Druck ihrer Hand, obwohl ich bisher glaubte sie würde tief schlafen und gar nicht hören was ich erzählte.  

 

Die gute Pflege und die nahrhafte Verpflegung und auch das Tagesgespräch über die Entlassung und Heimkehr ehemaliger Soldaten weckten ihre Lebensgeister und ließen sie genesen. 

 

Der Fuhrmann wollte Mutter die 7 Kilometer zum Weiler nicht zu Fuß zumuten. Er kutschierte uns nach Hause. Dankbar nahmen wir Abschied von ihm. Mutter bat ihn eindringlich die von ihm eingesammelten Stickereien als kleine Gegenleistung  für alle Mühen zu behalten. 

 

Am 22. Dezember, gerade noch rechtzeitig zu Weihnachten, kam mein Vater von der Kriegsgefangenschaft heim. Aber, war das mein Vater? Wenn ich so die Erzählungen meiner Mutter mit dem Äußeren meines „Vaters“ verglich, kam  er mir ganz fremd vor. Die Herzlichkeit, Freude und Liebe meiner Mutter, die Tränen der beiden Erwachsenen, brachen bei mir jedoch den Bann und allmählich gewöhnte ich mich an den „fremden“ Vater. 

 

Vater war abgemagert, müde und blass. Dennoch lies es ihm keine Ruhe was mit uns passiert war. Er ging noch am gleichen Abend zu seinem Bruder und stellte ihn zur Rede, weshalb er uns nicht auf dem elterlichen Anwesen aufgenommen habe, sondern uns in das „Armenhaus“ zwang. 

 

Mitten in der Nacht zogen wir in die „Altenwohnung“ des elterlichen Hofes. Hei war das ein Unterschied zur bisherigen Behausung. Ich schlief den Rest der Nacht wie ein Engel. 

 

Vater machte seinem Bruder klar, dass er als Anerbe zwar das Recht auf das elterliche Anwesen habe, jedoch keinen Gebrauch davon machen wolle. Die Schmach, die sein Bruder uns angedeihen ließ werde er aber sein Lebtag nicht vergessen. 

 

Vater und Mutter hatten sich sehr viel zu erzählen. Ich lauschte mucksmäuschenstill. Obwohl wir jetzt genügend und gut zu essen hatten, vergaßen wir dabei das Mittagessen. Es wurde schon grau draußen, als das Wort Weihnachtsbaum fiel. 

 

 Ganz plötzlich erhob sich mein Vater, Mutter half mir mich warm anzuziehen und wir marschierten gemeinsam in den Wald, um den schönsten Tannenbaum zu holen. Ich sollte den Baum auswählen. Es war eine schwere Entscheidung. Die Auswahl war groß. Ich ging mal hierhin mal dahin, drehte mich im Kreis, beugte mich nach rechts und nach links. Ich konnte mich nicht entscheiden. Mein Vater gab mir den Rat die Augen zu schließen und ganz laut zu zählen. Bei der Zahl fünf öffnete ich die Augen. Über einer wunderschönen Tannenspitze funkelte ein Stern so hell und klar, dass ich nun genau wusste nur dieser sollte mein erster Weihnachtsbaum sein.

 

 

Otterstadt, 9. November 2005

 

          Erich Peter Kuhn©

Redaktionell ergänzt im Juli 2014